Die Psychologie des Zoom-Seminars

Ein Wort prägt die Arbeits- und Bildungswelt seit der Pandemie wie kein anderes. Ein Wort, bei dem die meisten bis 2019 wohl an Kameratechnik gedacht haben, ist seit der Pandemie zu dem Inbegriff für Videokonferenzen schlechthin geworden: Zoom. Das amerikanische Unternehmen mit der gleichnamigen Software hat es geschafft, die Konkurrenz durch gute Usability, einfaches User Interface und stabile Verbindungen auszustechen.

Und so hat sich Zoom auch in der digitalen Bildung etabliert. Die Software ermöglicht scheinbar eine vollumfängliche digitale Version typischer Präsenz-Seminare: Die Teilnehmenden können sich sehen und hören, die Referierenden können ihre Slides und Bildschirme teilen, in Breakout-Rooms können Kleingruppen an interaktiven Teilaufgaben arbeiten. Ortsunabhängig, bequem, kostensparend und ohne echten physischen Kontakt sind alle Beteiligten gewissermaßen in digitaler Kopräsenz. 

Allerdings stellen die meisten irgendwann fest, dass ein Zoom-Seminar trotz der größeren Bequemlichkeit mitunter irgendwie anstrengender und ermüdender ist, als erwartet. Die Konzentration lässt überraschend schnell nach, die Gedanken schweifen wiederholt ab, die Augen werden schwer. Lernen erfordert immer einen gewissen Aufwand, doch der scheint in Online-Seminaren größer zu sein als erwartet. 

Online und trotzdem wach – die praktische Seite 

Wie können wir es dennoch schaffen, wach und aufmerksam zu einem konstruktiven Zoom-Seminar beizutragen? Neben der Erfahrung, wie anstrengend Online-Seminare in Zoom sein können, haben die letzten Monate auch viele konstruktive Tipps zur Verbesserung der Konzentration in Zoom-Seminaren zu Tage gefördert. Mit den folgenden einfachen Tipps können Sie Ihre Konzentration fördern und Ihre Aufmerksamkeitskapazitäten schonen. Probieren Sie diese Tipps einfach bei Ihrem nächsten Online-Seminar selbst aus: 

Tipps für Teilnehmende 

  • Zoom nicht im Vollbildmodus verwenden, Fenstergröße reduzieren, Gesichter verkleinern 
  • selbst weiter vom Bildschirm und von der Kamera entfernen 
  • Selbstansicht verbergen 
  • Kamera immer mal wieder kurz abschalten und vom Bildschirm wegdrehen und einfach zuhören 
  • regelmäßige Bewegung und Positionsveränderung 

Tipps für Referierende 

  • klare (Sprecher-) Regeln zur Abstimmung und zur Vermeidung von Interferenzen 
  • häufigere kürzere (Bewegungs-) Pausen als in Präsenz üblich 
  • Abschalten der Kamera während Referatsphase erlauben und befürworten 
  • Häufigerer Wechsel zwischen verschiedenen Methoden und Formaten als in Präsenz üblich 
  • Interaktive Übungen in sehr kleinen Gruppen, um Abstimmungsaufwand während der Gruppenphase zu minimieren 

Warum Zoom-Seminare so anstrengend sind – die wissenschaftliche Seite

Viele Teilnehmende wie Referierende von Online-Seminaren berichten, dass die obigen einfachen Regeln ihnen Online-Seminare deutlich angenehmer gemacht haben.  

Woher kommt das? Was steckt hinter der ermüdenden Wirkung der digitalen Co-Präsenz in Online-Seminaren? Die Antwort steckt in den kleinen, aber entscheidenden Unterschieden zu echter physischer Präsenz in einem Seminar. 

Zunächst werden die in einem Seminar sonst so positiven und erfüllenden Aspekte des sozialen Miteinanders durch das virtuelle Setting abgeschwächt und teils ins Negative umgekehrt. Verzögerungen in der Übertragung des Audiosignals führen zu parallelem Sprechen. Es erfordert mehr Mühe, den eigenen Sprecheinsatz gut zu timen. Zwar können sich alle Teilnehmenden gegenseitig sehen, wirklicher wechselseitiger Blickkontakt ist aber nicht möglich, da wir nur entweder in die Kamera oder in die Augen der anderen schauen können. Wir fühlen uns ständig als wenig involvierter Beobachter. Zudem ist die große gleichzeitige Nähe zu vielen Gesichtern sehr ungewöhnlich und unnatürlich, die Komfortdistanz zu anderen ist nicht gewahrt. Auch nonverbale Signale sind nur stark eingeschränkt möglich. Gesten und Körperdrehungen entfallen, die Abstimmung mit den anderen Teilnehmenden wird erschwert und damit ungewohnt mühevoll. 

Das soziale Miteinander, das sonst in regulären Präsenz-Seminaren eine Erleichterung des Lernens bietet, droht so schnell zu einer Erschwernis zu werden. Der Wegfall der positiven Aspekte des sozialen Lernens setzt sich auch in den Seminarpausen fort. Anders als in regulären Seminaren findet hier gerade kein lockerer, erholsamer Austausch statt. Jeder und jede bestreitet die Pausen für sich selbst. Eine starke Verbindung zu den anderen Teilnehmenden oder ein Wir-Gefühl kommt so nur schwer auf. Schnell wird die Pause zudem wenig erholsam, da doch noch eben schnell Mails gecheckt oder etwas am PC recherchiert wird. 

Hinzu kommt eine weitere erschöpfende Komponente: Während der gesamten Zeit ist die Kamera auf uns gerichtet, wir werden die ganze Zeit gefilmt. Zum einen fühlen wir uns dadurch ständig unangenehm beobachtet, zum anderen haben wir auch die unnatürliche Möglichkeit, uns selbst die ganze Zeit zu sehen und zu beobachten. Beides führt zu einer gesteigerten Selbstwahrnehmung und damit meist auch zu einer gesteigerten Selbstregulation. Ständig verwenden wir einen Teil unserer Aufmerksamkeit darauf, unser Verhalten, unsere Körperposition und unseren Gesichtsausdruck zu regulieren, viel mehr, als wir das in einem regulären Seminar täten. Einerseits ermüden wir dadurch schneller. Andererseits nehmen wir diese Ermüdung aufgrund der gesteigerten Selbstwahrnehmung auch stärker wahr. In der Folge steht ein großes Anstrengungserleben. 

Kommunikation zunutze machen. Fallen diese subtilen nonverbalen Möglichkeiten weg, so fühlen wir uns wieder wie kleine Kinder, deren soziale Automatismen noch nicht ausgeprägt sind und die sich mitunter mit viel Mühe selbst beherrschen müssen. Dann verlangt uns ein Online-Seminar mit vielen Teilnehmenden zusätzlichen Aufwand ab, der unsere generelle Konzentration für die eigentliche Lernaufgabe schwächt und zu einer so genannten Ego-Depletion führt, dem Aufbrauchen der verfügbaren mentalen Ressourcen zur Aufmerksamkeits- und Selbstkontrolle. Wir ermüden schneller, können uns schlechter konzentrieren und gleichzeitig lassen unsere Warnsysteme für die Erkennung mentaler Erschöpfung nach. In einfachen Worten, wir sind schneller unaufmerksam und brauchen länger als üblich, um das zu merken. 

Vielmehr bedeutet es, dass wir uns die mit Online-Seminaren verbundenen Regulationsprozesse und -erfordernisse bewusst machen sollten und Möglichkeiten brauchen, diesen Erfordernissen gerecht zu werden. Die Software allein kann uns das nicht abnehmen. Wir sind selbst gefragt, Online-Seminare möglichst lernförderlich zu gestalten.  

Neue Perspektiven einnehmen – die „Bottom-Line“ 

Im Laufe der (hoch-) schulischen Ausbildung und der beruflichen Weiterbildung haben viele von uns eine Vielzahl an Seminaren und Kursen besucht und wir hatten sehr viele Gelegenheiten, uns an diese Settings anzupassen. Online-Seminare sind für viele von uns etwas Neues und stellen einige andere Anforderungen an unser Verhalten. Das ist aber nichts Schlechtes. Wir müssen lediglich neu lernen, uns an diese Online-Settings anzupassen, um die Probleme zu bewältigen und die Vorteile richtig ausnutzen zu können. Die oben genannten Tipps geben eine erste Orientierung dazu. Probieren Sie sie einmal aus, seien Sie neugierig und experimentierfreudig. Versuchen Sie nicht, alte Muster auf diese ungewohnte Situation anzuwenden. Seien Sie offen dafür, Seminare im Online-Kontext neu zu denken. 

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