„Nun bin ich aber irritiert…!“
An diesem Punkt kommen wir alle im Leben, wahrscheinlich nicht nur einmal, vorbei. Dabei nehmen wir das Ereignis bzw. die Irritation oft als etwas Negatives wahr und wir versuchen es zu verdrängen, ohne uns dessen Kraft und Sinn bewusst zu sein.
Irritation – was ist das?
Das Wort „Irritation“ stammt vom lateinischen Wort „irritare“ und bedeutet so viel wie reizen, erregen oder auch provozieren. Allein diese Wörter haben meist eine eher negative Konnotation und lösen oft ein Gefühl der Störung und des Unwohlseins in uns aus.
In der Systemtheorie spielen Irritationen eine wichtige Rolle. Die Rede ist hier auch von Störungen. Diese Störungen und Irritationen können ein System in eine Situation führen, in der es entscheiden muss, ob eine Strukturveränderung vorgenommen werden muss oder nicht. Die Irritation zeigt sich meist als Impuls, der von außen her auf das System einwirkt und es irritiert. Das bedeutet, dass etwas vorgefallen ist, das auch außerhalb der bisherigen Grenzen und Handlungsoptionen liegt. Somit wird das System angeregt zu reagieren. In diesem Moment wird der Status quo erschüttert oder in Frage gestellt. Die bisherigen Denk- und Verhaltensmuster sind nicht mehr tauglich und der Impuls wird als Störung wahrgenommen.
Doch eigentlich ist dieser Impuls, diese Störung, diese Irritation, besonders wertvoll, denn es ist meist ein wertvoller Entwicklungsimpuls.
Warum wir schon immer durch Irritationen lernen
Wir Menschen streben nach einem Gleichgewicht, was Jean Piaget als Äquilibrium bezeichnet. Bereits in seiner Theorie der kindlichen Entwicklung beschreibt er die Assimilation und Akkommodation. Wenn Kinder die Welt entdecken, stoßen sie dabei immer wieder auf Dinge, die sie vorher noch nicht kannten. Können sie diese nicht in ihr bereits vorhandenes Schema einordnen (Assimilation), so müssen sie ihr Schema an die Umwelt anpassen (Akkommodation), um dadurch wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Das ist der typische Lernprozess eines Kindes und so entwickeln sich auch Erwachsene weiter und lernen Neues.
Durch Irritationen werden wir dazu bewegt unsere bisherigen Handlungsoptionen und Denkmuster zu überdenken und gegebenenfalls zu erweitern, sodass die Störung keine Störung mehr ist. Dadurch lernen wir mit ungewohnten oder neuen Situationen umzugehen und Möglichkeiten zu suchen, die uns weiterbringen. Irritationen dienen als Entwicklungsimpuls und sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lernprozesses.
Die Irritation der Menschheit
Das beste Beispiel für eine solche Irritation ist die Corona-Pandemie. Sie hat unser aller Leben „gestört“ und unsere Grenzen überschritten. Durch diesen Impuls mussten wir lernen, neue Handlungsformen anzunehmen, beispielsweise im Homeoffice zu arbeiten. Vor der Pandemie haben rund 4% der Deutschen im Homeoffice gearbeitet, während es im Januar 2021 24% waren (vgl. Statista 2021). Für viele Menschen und Arbeitgeber war es vor der Pandemie nicht denkbar, im Homeoffice zu arbeiten, doch die Irritation hat neue Handlungsoptionen und Möglichkeiten notwendig gemacht, wodurch neue Arbeitsformate entstehen konnten, die nun als selbstverständlich und normal gesehen werden.
Doch Irritationen müssen nicht immer in diesen großen Dimensionen stattfinden. Wir werden täglich irritiert, doch viele kleinere Störungen können wir leicht lösen und annehmen.
Um Irritationen positiv nutzen zu können, ist es wichtig sich Zeit zu geben. Veränderungen brauchen Zeit, Entwicklungen brauchen Zeit und so brauchen auch wir Zeit, angemessen auf Störungen reagieren zu können, unsere Möglichkeiten, unseren Horizont zu erweitern und die Irritation zu etwas Positivem in unserem Leben werden zu lassen.
Auch in der Holistic Journey sind Irritationen ein wichtiges Element des Lernprozesses. Durch kleinere und größere Irritationen in Übungen wird den Teilnehmenden ermöglicht, ihre Handlungsoptionen neu zu überdenken und ihre Möglichkeiten zu erweitern. Zudem lernen wir, wie man als Entwicklungsbegleitende gezielt Irritationen einsetzten kann.
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