Wahrnehmungsebenen und Bewusstsein

Bewusstsein für (Selbst-)Führung in Komplexität: Das ist der Titel unserer Weiterbildung. Doch wie entsteht unser „bewusst“ – sein, wie werden wir uns in unserem Leben bewusst über uns selbst und unser Handeln?

Unser Bewusstsein entsteht im Rahmen der Fähigkeiten, die uns als Mensch zur Verfügung stehen, um die Welt wahrzunehmen. Unsere Wahrnehmung ist unmittelbar mit unserem Wesen als Mensch verbunden. Das brachten uns bereits die berühmten systemischen Vordenker, Maturana und Varela, in ihrem Standardwerk „Baum der Erkenntnis“ nahe.

Sensorische Wahrnehmung

Unsere menschliche Wahrnehmung beginnt mit der sensorischen Wahrnehmung, die uns durch unsere Sinnesorgane mit unserer Umwelt verbindet: Wir hören, sehen, riechen, schmecken und tasten in menschlicher Art und Weise, so wie es der Spezies Mensch gemäß ist. Dabei können wir nur einen Bruchteil der vorhandenen Reize überhaupt verarbeiten.

Unsere menschliche Sensorik wird bereits im Mutterbauch ausgebildet. So kann ein Kind bereits in der 7. Schwangerschaftswoche seine Umgebung wahrnehmen. Und schon als Neugeborenes dort steuern wir unser Verhalten entsprechend dieser Wahrnehmungen –  Verhalten ist mit unserer Wahrnehmungsfähigkeit direkt verknüpft. Ein hungriges Baby findet über seinen Tastsinn ganz leicht die spendende Brust.

Andere Lebewesen besitzen andere Wahrnehmungsmöglichkeiten: Der Hund zum Beispiel ist uns beim Riechen um ein Vielfaches überlegen, die Fledermaus ist fähig, Echolotung wahrzunehmen. Mich begeistern die Filme von Sir Attenborough über die Farbwahrnehmung unterschiedlicher Spezies („life in colour“, netflix). Der Wandervogel besitzt die Fähigkeit, Magnetfelder der Erde wahrzunehmen und diese zur Selbststeuerung zu nutzen.

Kognitive Wahrnehmungsebene

Diese sensorischen Wahrnehmungen sind unmittelbar mit der kognitiven Wahrnehmungsebene verbunden. Hier werden die auf uns einströmenden sensorischen Informationen mit Wissen, Erfahrungen und Erwartungen kombiniert, um den Eindrücken Sinn und Bedeutung zu verleihen. Die Eindrücke aus der Umwelt werden quasi gefiltert und mit Vorwissen abgeglichen. Wenn wir unsere Lebensspanne betrachten, sind es Abermillionen von Eindrücken, die in der kognitiven Wahrnehmungsebene identifiziert und verarbeitet worden sind. In Lernprozessen haben wir seit der Reifung im Mutterbauch gelernt, aus zahlreichen Wahrnehmungen, die auf uns einströmen, diejenigen zu identifizieren, die für unsere Steuerung relevant sind und der Aufmerksamkeit bedürfen. Dabei bezieht der Kognitive Wahrnehmungsapparat weitere Wahrnehmungsebenen in seine Lernprozesse mit ein:

Emotionale Wahrnehmungsebene

Die emotionale Wahrnehmungsebene umfasst die Erfassung und Interpretation von Gefühlen und Stimmungen, die wir in unserem Körper spüren können. In dieser Wahrnehmungsebene wird die Fähigkeit erworben, eigene Emotionen und die Emotionen anderer zu erkennen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Im Laufe unserer Entwicklung lernen wir, mehr oder weniger gut, unsere Emotionen einzuordnen, zu kontrollieren (Emotionsregulation) und diese bei anderen zu identifizieren (emotionale Wahrnehmung bei anderen). Diese Wahrnehmungsebene ist vor allem durch die Arbeiten von Goleman in den 1990er Jahren für die Arbeitswelt bedeutsam geworden.

Soziale Wahrnehmungsebene

Ergänzend dazu können wir die soziale Wahrnehmung als spezielles Feld unserer Wahrnehmung begreifen. Die soziale Wahrnehmung ermöglicht es uns, soziale Interaktionen zu verstehen und uns in die Perspektiven anderer Menschen einzufühlen. In der Interaktion mit unseren „Artgenossen“ entwickeln wir eine Wahrnehmung darüber, wie wir uns im sozialen Kontakt mit anderen zu verhalten haben. Dazu interpretieren wir nicht nur das konkret beobachtbare Verhalten, sondern auch soziale Signale, wie zum Beispiel nonverbaler Kommunikation, Gestik, Mimik, Körperhaltung und Stimmlage. Im Rahmen der sozialen Wahrnehmung interpretieren wir darüber hinaus Wünsche, Erwartungen und Werte von andern und verhalten uns entsprechend.  

Selbstwahrnehmung

Darüber hinaus lässt sich die Ebene der Selbstwahrnehmung unterscheiden. Diese Wahrnehmungsebene bezieht sich auf die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und eigene Gedanken, Gefühle, Absichten und Bedürfnisse zu verstehen. Sie umfasst auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers, der eigenen Identität und des Selbstkonzepts.

Ist uns all das bewusst?

Dies sind nur einige Wahrnehmungsebenen, die gemeinsam unser Bild auf die Welt formen. Gemeinsam stehen sie in ständiger Interaktion zueinander und wirken in jedem Moment auf uns als Menschen und auf unser Verhalten ein.

Gemeinsames Bewusstsein schaffen

Macht man sich dieses Zusammenspiel der Wahrnehmungsebenen einmal bewusst, wird klar, wie viele Dinge wir erst gar nicht wahrnehmen können und sich damit unserem Bewusstsein komplett entziehen. Um so erstaunlicher ist es, dass wir jeden Tag erneut auf andere Menschen treffen und denken, dass wir ein gleiches Verständnis haben könnten. Doch wenn dies so ist, wie können wir der Komplexität unserer Wahrnehmung auf die Spur kommen?

Im Rahmen der Holistic Journey beschäftigen wir uns intensiv mit diesen Wahrnehmungsebenen, hinterfragen die Entstehung unserer Überzeugungen und wenden nützliche Modelle an, um neue Wahrnehmungsfacetten zu erschließen.

Wir üben uns in achtsamer Verständigung und in dialogischen Formaten darin, Wahrnehmungen auf den unterschiedlichen Ebenen zu unterscheiden und zu versprachlichen.

Vor allem der Zugriff auf emotionale und soziale Wahrnehmungsebenen ist eine Kompetenz, die in Bildungs- und Arbeitssystemen in den letzten Jahren vernachlässigt worden ist. Doch gerade in Krisensituationen, in Transformationen und in komplexen Fragen kann durch sinnstiftende Dialoge über verschiedene Wahrnehmungsebenen hinweg ein gemeinsames Bewusstsein entstehen.

Wir können Wahrnehmungsgewohnheiten entdecken. Wir können andere Menschen mit deren Beweggründen besser verstehen. Und schließlich können neue Ideen entstehen, frei von altem Ballast und von Glaubenssätzen.

Literatur:

Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela 
Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens 
Herausgeber: Fischer  
ISBN: 978-3-596-17855-1 

Goleman, David (1997).
Emotionale Intelligenz (EQ)
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 32. Edition
ISBN: 3423360208

Yong, Ed (2022).
Die erstaunlichen Sinne der Tiere
Verlag Anje Kunstmann GmbH, München
ISBN: 978-3956145148